Die Brücke

aus:
“Der Straßengeher von Reinhold Ziegler
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim
ISBN 3-407-78850-9

Sie hatten nicht erwartet, dass es über eine solch gigantische Brücke auch einen Fußweg geben könnte. Schon aus mehreren Kilometern Entfernung sah man die Pfeiler in den Himmel stechen, die baumdicken Kabel bildeten ein Netz, als wollte die Brücke nicht nur im hohen Bogen die Seinemündung überqueren, sondern auch noch die Luft sieben, die von Paris aus übers Meer entlassen wurde.
Doch Jans Mutter litt unter solcher Höhenangst, dass selbst ein Kaffeetrinken auf dem häuslichen Balkon für sie mehr Stress als Erholung bedeutete, für sie kam die Brücke nicht in Frage. Susan, Jans Schwester, schmollte seit Paris, wo sie gerne noch ein paar Tage länger geblieben wäre, pubertierend vor sich hin und zog beleidigt eine Stunde auf dem brütend heißen Parkplatz der kleinen Wanderung zum Scheitel der Riesenbrücke vor.
Jan hatte nichts übrig, für solche Kindereien. Mit frischem Abitur in der Tasche hatte er dem letzten gemeinsamen Urlaub mit den Eltern zugestimmt, nun wollte er auch zeigen, dass es ihm Ernst war, mit ‘gemeinsam’.
„Ich bin dabei!“, sagte er deswegen, als ihn der Vater fragte, ob wenigstens er mitkäme, denn der ließ nur ungern eine Gelegenheit aus, technische Großtaten im Detail zu besichtigen,.
Der Weg neben den Fahrspuren war zu schmal, um nebeneinander laufen zu können. Jan folgte dem Rücken seines Vaters, bemerkte, wie zum ersten Mal auch bei ihm dieses merkwürdige Schlenkern der Arme, für das er selbst so oft gehänselt wurde. Er versuchte seine Arme unter Kontrolle zu bringen, aber es war nur möglich, wenn er bewusst daran dachte. Sobald seine Gedanken sich mit anderen Dingen beschäftigten, mit dem leichten Beben, das jeder Lastwagen verursachte, oder mit dem ohrenbetäubendem Lärm, den die Fahrzeugflut von und nach Le Havre hier oben erzeugte, begannen seine Arme wieder zu pendeln wie die Seile, die sie manchmal in der Turnstunde von der Hallendecke gelassen hatten.
Jan musste lachen beim Gedanken daran, dass es ein Gen geben könnte, das für unkontrolliertes Schlenkern von Unterarmen zuständig war. Es gab mehr in diesen 75 Kilo Körpermasse, als die zwei Jahre Biochemie-Leistungskurs vermitteln konnten, und für einen Augenblick dachte er an das, was er unter Gott verstand oder verstehen wollte.
Mit dem da vorne hatte er nie über Gott gesprochen. Merkwürdig, er teilte sich mit ihm das Schlenkern der Arme, aber jeder hatte seinen eigenen Gott, wenn überhaupt.
Plötzlich drehte sich der Vater um, sah ihn an, lachte. So etwas wie Kleinbubenglück leuchtete für einen Moment in seinen Augen auf.
„Wir sind gleich oben!“, schrie er durch den Lärm der Autos, die dicht an dicht die Fahrbahn hinaufdrängten, und zeigte auf den Punkt, an dem sie die Mitte der Brücke erreichen würden. Jan nickte, vielleicht lachte er auch zurück, obwohl es ihm merkwürdig vorkam, seinen Vater lachen zu sehen.
Oben blieb der Vater stehen, stellte sich breitbeinig über die Dehnfuge, die den Scheitel der Brücke markierte und schaute aufs Meer hinaus.
„Hättest du gedacht, dass es so schaukelt?“, schrie er.
Jan schüttelte den Kopf. Jeder Lastwagen brachte die Brücke zum Schwingen und wenn er abwärts schaute, auf diese eine Ewigkeit tief unter ihm liegende Wasserfläche, konnte er die genetischen Bestandteile der mütterlichen Höhenangst im Bauch spüren.
„Ob man heil bleibt, wenn man runterjumpt?“, fragte er.
„Ich würde es dich nicht probieren lassen!“, rief der Vater zurück.
„Manchmal meine ich, ich müsste so etwas probieren!“ Jan wollte ihm Angst machen, aber der Vater nickte.
„Manchmal meine ich, ich könnte keine Sekunde mehr weiterleben, wenn ich nicht sofort so was probiere - kannst du dir das vorstellen?“
Der Vater sah ihn an, zog die Unterlippe zwischen die Zähne, wie er es immer tat, wenn er nicht wusste, ob es klug war, etwas auszusprechen. „Ich war nicht immer dreiundfünfzig, Jan, ich kenne das, ja!“
„Es ist nur die Angst, die einen zurückhält, oder?“
„Am Anfang, denke ich, ist es nur die Angst zu sterben, später ist es auch die Angst, jemanden im Stich zu lassen, zu versagen, wegzulaufen. Die Angst zu sterben lässt nach, je näher du dem Tod kommst. Du begreifst mit der Zeit, dass du nicht drum herum kommst. Dann gibt es Nächte, an denen du glaubst, verrückt zu werden, weil schon so viel vorbei ist vom Leben, und dann kommt ein Morgen und ein Tag und du verlierst die Angst wieder.“ Er sah Jan an, zuckte die Schultern. So ist es eben, hieß das, kein Grund sich aufzuregen.
„Ich wusste nicht, dass du solche Gedanken hast“, sagte Jan.
Wieder zuckte der Vater die Schultern, dann ging er ganz nach vorne ans Geländer, neigte sich weit drüber, als wollte er sich in den weiten Luftraum zwischen Brücke und Wasser hineingleiten lassen.
„Wär doch ‘n cooler Abgang, was?“, schrie er.
Normalerweise hasste es Jan, wenn sein Vater so zu reden versuchte, wie er dachte, dass Jugendliche es täten. Das klang so nach Pädagogik, so nach trickreichem Einschleusen wohlüberlegter Erziehungskonzepte - in jedem Fall ein Grund, auf Abstand zu gehen. Aber diesmal ging er ohne darüber nachzudenken auf das Spiel ein, schnappte seinen Vater bei der Jacke, zog ihn mit einem Ruck zurück - vielleicht war es auch wirkliche Angst um ihn -, umgriff ihn von hinten mit beiden Armen und drückte ihn an sich. Sein Vater war einen Kopf kleiner als er, inzwischen bestimmt auch schwächer, sie hatten schon vor Jahren damit aufgehört, im spielerischen Raufen ihre Kraft zu messen.
„Lass mich, lass mich!“, schrie der Vater albern und wand sich hin und her. „Ich muss es tun, ich kann nicht anders!“
Aber Jan hielt ihn hart im Klammergriff, bis der Vater seinen gespielten Widerstand aufgab.
Für einen endlosen Augenblick unerwarteten Glücks standen sie bewegungslos, dann drehte der Vater den Kopf zu ihm um, strahlte ihm ins Gesicht. Jan lachte zurück.
„Früher habe ich dich oft so festgehalten, wenn du wütend warst und rumgetobt hast - weißt du noch?“
Jan nickte. „Ich hab es gehasst, glaube ich.“
„Schon möglich, aber ich hatte immer den Eindruck, du hast es auch irgendwie gebraucht - ist schon lange her, das letzte Mal, was?“
„Ich wüte nicht mehr.“
Jan hatte immer noch die Arme um seinen Vater geschlungen. Auf dessen Kopf, der direkt unter seinem Kinn lag, konnte er die kahlen Stellen der Kopfhaut sehen, fühlte unter seines Vaters Jacke den weichen Bauchansatz.
Jetzt wäre der Moment, loszulassen, dachte er, doch er zog ihn noch fester an sich heran.
„Wenn du mal nicht mehr da bist, wird ein Loch in meinem Leben sein“, sagte er leise.
„Was ist?“, schrie der Vater nach hinten.
Jan wusste nicht, ob er den Satz wiederholen sollte. Wusste nicht, ob es nicht lächerlich war, so etwas zu sagen, zu seinem Vater zu sagen, wenn man schon fast neunzehn war und im Begriff, das Haus zu verlassen.
„Was ist?“, rief der Vater wieder.
„Wenn du mal nicht mehr da bist, wird ein riesiges, verdammtes Loch in meinem Leben sein!“, schrie er.
Der Vater wand sich aus Jans Armen und drehte sich zu ihm um, wischte sich mit einer Handbewegung die windzerzausten Haare nach hinten. Dann griff er hoch und strich auch seinem großen Sohn eine Strähne aus dem Gesicht.
„Das ist in Ordnung so“, sagte er glücklich und nickte dabei, „das muss so sein.“
Noch einen Moment blieben sie ganz vorne an der Brüstung stehen, dann zog der Vater Jan weg.
„Lass uns zurückgehen, die Mädels warten unten in der Hitze.“
Langsam liefen sie den schmalen Fußpfad zurück, der Vater mit schlenkernden Armen vorne, Jan mit seinen schlenkernden Armen hinterher.
Als sie auf dem Weg zum Parkplatz waren, konnten sie wieder nebeneinander gehen.
Die Mutter hatte sich mit Susan hinter dem Auto in den schütteren Schatten eines frischgepflanzten Bäumchens gesetzt. Als die beiden antrotteten, sprang sie auf. „Was habt ihr da oben denn so lange gemacht?“, fragte sie ihren Mann ein wenig gereizt.
„Runtergeguckt“, sagte der Vater.
Sie verdrehte die Augen, schüttelte genervt den Kopf. Dann sah sie Jan fragend an.
„Runtergeguckt!“, sagte Jan und grinste.
 

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