Unter der Dusche

aus:
“Der Straßengeher von Reinhold Ziegler
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim
ISBN 3-407-78850-9

Es passierte in irgendeiner kleinen Stadt, an deren Namen ich mich lieber nicht mehr erinnern möchte. Ich war auf Dienstreise dort, gestrandet, hatte plötzlich einen Nachmittag frei und keine Ahnung, was ich damit anfangen könnte. Mir war nach Bewegung, aber es regnete zu viel zum Spazieren gehen, vielleicht war mir auch zu warm oder zu kalt oder zu einsam - jedenfalls bin ich, einem plötzlichen Entschluss folgend, ins Hallenbad gegangen.
Da die Brause in meinem Hotel die Tropfen nur sporadisch von sich gab, nutzte ich die Gelegenheit, nach dem Schwimmen ausgiebig zu duschen. Ich schlüpfte also, nachdem ich fast allein im Becken geschwommen war, in die Tür, auf der ich glaubte, die Aufschrift "Dusche Herren" entziffert zu haben. Fünf Duschkabinen ohne Tür, nur durch Stellwände getrennt. Ich zog meine Badehose aus, stellte mich nackt unter die Brause und drehte das Wasser auf, schönes, warmes, volles Wasser.
Ich hatte gerade genussvoll meine Haare einshampooniert - ich trug damals die Haare noch länger und dichter -, als ich Stimmen hörte. Es waren die Stimmen der drei halbwüchsigen Mädchen, die mit mir zusammen die einzigen Gäste im Becken gewesen waren. Dann flog die Tür auf, die drei wirbelten herein. Schnell drehte ich mich und meine Männlichkeit verschämt zur Wand, denn plötzlich war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob wirklich "Herren" an der Tür gestanden hatte. Stand vielleicht "Dusche Damen" dran und ich hatte nicht richtig geguckt? So was kann mir passieren, meine Gedanken sind manchmal anderswo als mein Körper. Menschen wie ich seifen sich unter schlechten Umständen schon mal versehentlich in der Damendusche ein.
Und jetzt? Die drei gingen hinter mir vorbei, bestimmt hatten sie mich längst gesehen. Ich wartete bange auf Geschrei, Aufruhr - aber es kam nichts. Ich wartete noch einen Augenblick, doch sie verschwanden nicht, sondern legten offensichtlich selber ihre Badeanzüge ab - schade, ich konnte nichts sehen, stand ja mit dem Gesicht zur Wand und hätte auch einen Teufel getan, mich umzudrehen.
 Hätte ich doch gleich zu Anfang einfach gesagt: "Oh, Entschuldigung, ich glaube ich bin falsch hier", Badehose schnell angezogen und rüber in die richtige Dusche. Aber jetzt war es zu spät.
Und dabei bin ich sonst gar nicht prüde, bade nackt und sonne mich ohne, aber hier, mit drei schnatternden Teenies im Rücken …
Was die auch immer hinter mir rumliefen, Shampoo tauschen, Duschgel holen, Handtücher besorgen. Die mussten doch längst zu mir reingeguckt haben.
Plötzlich wurde mir klar, warum es keinen Aufruhr gab - die hielten mich von hinten für eine Frau. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich nackt von hinten aussah. Hatte ich Haare auf dem Rücken? Oder gar auf dem Hintern? Wenn ja, dann bestimmt nicht viele. Und sonst? Vielleicht die Schultern ein wenig zu breit, vielleicht die Beine ein wenig zu krumm, die Waden zu muskulös. Aber es gibt auch sehr männlich gebaute Frauen, da sind Verwechslungen in der Rückansicht nicht ausgeschlossen.
Ich hielt die Beine fest zusammen, um auf keinen Fall von hinten einen Durchblick zu ermöglichen, während ich vorsichtig fortfuhr, meine halblangen Haare zu shampoonieren. Warum liefen die dauernd hinter mir hin und her? Vermutlich natürlich nackt und ich durfte mich nicht mal umdrehen.
Es dauerte hundert Ewigkeiten, bis die drei endlich verschwanden. Ich hatte meinen Kopf sieben Mal eingeschäumt, und wenn ich heute einen Großteil meines einst dichten Haupthaars eingebüßt habe, dann vielleicht wegen dieses peinlichen Vorfalls damals. Als sie endlich, endlich weg waren, raffte ich mein Zeug zusammen und stürzte ungesehen in die nächstbeste Umkleidekabine. Die Kabinen waren nach oben offen, man konnte hören, was in der gesamten Anlage gesprochen wurde.
"Irgendwie klappt's immer wieder", sagte eine junge Stimme.
"Der hat sich vor lauter Panik zehn Mal die Haare gewaschen!", hörte ich eine andere.
Und die dritte meinte: "Nächstes Mal gehen wir auch wieder in die Männerdusche. Ich find das einfach zu witzig, wie sie immer ihre Beine zusammenpressen!"
Und sie glucksten und gackerten sich halb tot und ich war sicher, sie wussten genau, dass ich zuhörte.

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