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„Es ist ein guter Job!“ Immer wieder grummelt Massimo diesen Satz während er den riesigen Traktor über den menschenleeren Strand lenkt. Er hat sogar so etwas wie ein Lied daraus gemacht. Es ist ein guter Job Es kommt die Sonne schon Es sind die Möwen da Und ich krieg viel Euro So ungefähr geht sein Text, den er gelegentlich variiert, während er allmorgendlich die sieben Kilometer zwischen dem Lido di Cormecci und der Mündung des Sossa hin und her fährt. Das schwere Gerät hinter ihm eggt den Sand durch, ein Sieb schüttelt das Schwemmgut der letzten nächtlichen Flut in einen Korb, den er alle paar Kilometer auf dem Strand auskippt. Fernando wird ihm später helfen, diesen ganzen Dreck auf einen dicken Laster zu laden und ihn im Hafen drüben auf die Halde zu kippen. Das ist der Job: Juni, Juli und August, drei Monate dauert er, dann kann Massimo zurück in die Berge auf seinen kleinen Hof, gerade rechtzeitig um seine paar Reben abzuernten. Der Wein wird über den Winter reichen, das Geld aus dem Job auch und mit ein wenig Glück, bekommt er ihn nächstes Jahr wieder. Wie jeden Morgen ist er um vier aufgestanden. Jetzt, Ende August, muss er am Anfang schon die Scheinwerfer einschalten, so spät kommt jetzt erst die Sonne. Das ist seine Zeit. Wenn die von der Flut angespülten Haufen und Schatten in seiner Fantasie zu Truhen und Fässern werden, wenn Schiffbrüchige langgestreckt am Strand liegen und sich erst im letzten Augenblick im Licht seiner Scheinwerfer zu tangverhedderten und zerfetzten alten Netzen zurückverzaubern, wenn kristallene Wunderflaschen darauf warten, dass einer wie er sie findet und ihren Dschinn freilässt, bevor seine Egge sie erfasst und sie wieder zu schnöden Plastikwasserflaschen werden. Massimo lässt den Diesel dröhnen, vorbei an den Hotelzimmern und Ferienwohnungen der Hochhäuser, vorbei an den Zelten und Wohnwagen der Campingplätze, vorbei an den Geschäften und Ristoranti der Innenstadt. Er summt und grummelt sein Liedchen durch den Lärm, stellt sich vor, wie sie aufwachen in den Ferienwohnungen, horchen, „ach, Massimos Traktor nur“, sich umdrehen, weiterschlafen, lächeln, weil sie wissen, Massimo macht den Strand blitzsauber, eggt und glättet ihn, wie ein Feld, auf dem er Weizen säen will, Mais oder Sonnenblumen. Nachher, wenn er fertig ist, wird er zwei Espressi trinken gehen, ein wenig frühstücken, dann ein Gläschen Wein und dann an den Stränden entlang zurücklaufen zu seiner Unterkunft, um die Mittagshitze zu verschlafen. Und er wird sie liegen sehen auf seinem gerechten Sand. Tausende, Millionen braungebrannter Touristenleiber, die sich aalen und drehen und wenden, die schwimmen und plantschen und braten und bräunen und buddeln und werfen und schwimmen und schwatzen und essen und trinken und rauchen und palavern und schreien ... Jetzt, um sechs ist der Strand noch fast leer. Ein paar Muschelsucher manchmal nur, ein paar Angler, die ihm zuwinken, ein paar Hundefrühausführer und die ewigen Schlaflosen, die wie ohnmächtig die ganze Nacht am Saum des Meeres zu wandeln scheinen, als triebe es sie irgendwohin. Massimo singt sein Lied. Es ist ein guter Job ... Als er das erste Mal wendet, ganz im Süden, am Ende seiner Strecke, wo der Sossa sein bisschen algiges Sommerwasser in die Adria spuckt, hat sich das Rot des neuen Morgen schon auf einem Punkt im Osten zusammengezogen. Aber noch fehlt das Licht, noch sind es seine Scheinwerfer die Schatten über den Strand werfen. Und so hätte er sie fast überfahren. Ob sie schon da lag, als er das erste Mal vorbei gekommen ist, kann er später nicht mehr sagen. Vielleicht ein großer Schatten, den er nicht beachtete, vielleicht trieb sie da auch noch im Wasser. Er kommt wenige Meter vor ihr zu stehen, sie liegt verdreht im Lichtkegel seines Scheinwerfer, tiefbraune Haut, orangfarbener Bikini. Ihr nasses, blondes Haar um den kleinen Kopf geklatscht wie Tang um eine Netzboje. Dann sieht er, dass sie lebt. Er wischt ihr das Haar aus dem Gesicht, dreht sie auf den Bauch, nimmt sie an den Hüften, zieht sie hoch. Sie ist federleicht, klappt zusammen wie eine nasse Decke. Er schlägt ihr auf den Rücken, erst leicht, dann stärker, bis der Körper anfängt, das Meerwasser herauszulassen. Dann legt er sie wieder auf den Rücken, drückt ihren Kopf zurück, hält ihr den Mund zu und bläst ihr den ersten Schwall frischen Atem durch die Nase in ihre abgesoffene Lunge. Das alles hat er gelernt, nie gebraucht bisher, aber gelernt vor langer Zeit, weil seine Mama ihn immer wieder daran erinnert hatte: wie lang der Rettungswagen gebraucht hatte, bis er endlich oben auf ihrem abgelegenen Hof war. Zu lang, für den Vater, der in den Silo gefallen war, zu lang für seinen großen Bruder auch, der unüberlegt hinterhergestiegen war, um den Vater zu retten und selber auch noch vom Gas erstickt wurde. Wenn er nur gewusst hätte wie, sagte die Mama immer wieder. Wenn er es nur gewusst hätte, der Bruder hätte den Vater rausziehen können und wiederbeleben. Und beide wären sie noch am Leben. Daran denkt er, als er der kleinen blonden Frau Luft in die Nase bläst, während hinter ihm sein Traktor rattert und kein Mensch weit und breit sich sehen lässt, der Hilfe holen könnte. Er bläst und atmet und zählt, denkt an seinen Vater und seinen Bruder Enrico, sieht den kleinen Brustkorb sich heben, wartet, bis er sich wieder senkt, bläst wieder, zählt, hört den Diesel nageln, sieht das orange Licht im Osten, wo gleich die Sonne hochsteigen wird, bläst und zählt, bis sie anfängt zu würgen und zu husten und endlich die Augen aufschlägt. Später, im Cafe, sein Gläschen Wein vor sich, versteht er langsam, was er getan hat. Er fragt sich, ob sein Bild in der Zeitung sein wird, wie sie wohl heißt, ob es eine Deutsche war, ob sie mit ihm in die Berge gehen würde, ob sie ihn heiraten würde. Er trinkt gegen seine Gewohnheit ein zweites Gläschen, überlegt, ob sie wohl freiwillig ins Meer gegangen ist, oder von einer der Yachten gefallen, die vor der Küste kreuzen, ob sie schon seit dem Abend dort lag oder ob sie nachts schwimmen war. Als nach drei Tagen noch kein Reporter ein Foto von ihm gemacht und auch sonst sich niemand bei ihm gemeldet hat, fährt er zu dem Krankenhaus, um ihren Namen zu erfahren. Aber sie sagen ihm den Namen nicht. Datenschutz, sagen sie. In seiner letzten Woche, wieder auf dem Traktor, weiß er selber nicht mehr, ob es die blonde kleine Frau mit dem orangenen Bikini überhaupt gegeben hat oder ob es nicht nur ein Schatten war, ein altes Netz oder ein paar verfaulte Bretter. Und als seine Mama ihn nach drei Monaten oben in den Bergen endlich wieder in die Arme schließt, ihn „Massimo, Massiminio!“ nennt und drückt und herzt, ihn fragt: „Wie war es, mein Kleiner? Hast du viel Arbeit gehabt? Hast du dich gewaschen? Hast du dort Freunde ? Hast du Geld mitgebracht? Bist du ausgegangen? Hast du eine Frau gefunden?“ Da lacht er nur und sagt müde: „Wie soll einer von hier oben dort unten eine Frau finden, Mama? Wie denn?“
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