Dieses Wartezimmer hat so etwas Frohes, Lebensbejahendes, ich war schon als Kind hier. Fröhliche Farben und die muntere Familienwerbung eines Krankenversicherungskalenders. Es gibt nie Uhren in Wartezimmern. Hier und jetzt, wo mir das Verrinnen des Lebens am eindeutigsten bewusst wird, fehlt der allgegenwärtige Zeitzumesser. In den drei Tagen seit sie mir das Blut abgenommen haben, lief mein Leben tausendmal vor mir ab, tausendmal einen Film, immer bis zu diesem Moment im fahlen Abendlicht in den Dünen, für den ich mich wütend und verzweifelt tausendmal angeschrien und geohrfeigt habe. Oft meinte ich das Virus schon in mir zu fühlen, meinte plötzlich zu spüren, dass ich todgeweiht bin. Am Freitagabend im Bad, als auf einmal meine Nase zu bluten begann, kam mir mit einem Mal beim Blick in meine trüben Augen die Idee, dass ich von meiner Urlaubsliebe noch andere Andenken als ein Säckchen voll betörend riechender Eukalyptuskapseln mitgebracht haben könnte. Eine Frau sitzt mir gegenüber, die linke Hand in einem dicken, provisorischen Verband. Ab und zu legt sie die rechte darüber, stöhnt ein wenig. Ich wünschte mir ein gebrochenes Handgelenk, oder eine Verbrennung. Irgendwas, bloß nicht das. „Warum machst du auch so was?“ hatte der Arzt am Montag gefragt, aber das war auch das einzige, was ich als Vorwurf hätte deuten können. Wahrscheinlich hatte er gemerkt, dass man mir keine Vorwürfe mehr machen musste, das ganze Wochenende hatte ich mir genug vorgeworfen. Zwei Tage und zwei Nächte lang, vom Moment der schrecklichen Idee bis zum Montagmorgen, als endlich die Praxis geöffnet wurde. „Mach dich nicht verrückt, wir testen es. Komm am Donnerstag wieder, dann wissen wir mehr.“ Wahrscheinlich wusste er, dass ich bis dahin kein Auge zutun würde. Ich bin noch so jung, ich will noch nicht sterben! Ich habe das Internet durchsucht und Millionen von Hinweisen gefunden. Wie, wo, wann und wobei man sich ansteckt. Über Tests und Therapien, Selbsthilfegruppen und Medikamente. Nichts über Dummheit. Nichts über abgrundtiefe, sinnlose, unnötige Dummheit. Die Frau mit dem Verband wird rein gerufen. Sie jammert. Wollen wir tauschen?, denke ich. Ich tausche alles, gegen ein kleines Virus oder tausende von ihnen. Wieviel sind jetzt schon in mir? Hundert, tausend, Millionen? Auch das steht bestimmt im Internet. Oder in Broschüren. Wo steht, wie man stirbt? Warum war mir mein Leben in diesem Moment so billig, dass ich es so kopflos riskieren konnte? Vor dem Fenster Geräusche, dann fährt eine Kabine an der Fassade herunter. Ein junger Kerl mit Fensterwischer und Eimer grinst von außen in das Wartezimmer, zieht blitzschnell in gekonnten Serpentinen seinen Schwamm über die Scheibe. Die Praxis liegt im sechsten Stock, das würde reichen, würde schneller gehen, als das, was mir bevorsteht. Kann man sterben, ohne dass es wehtut? „So!“ Der Doktor steht selber in der Tür, „Komm, du bist dran!“ Ich laufe hinter ihm her, setz mich auf den Stuhl, auf den seine Hand weist. Er setzt sich in seinen Bürosessel, zieht ein Blatt aus meinem Krankenakt. „Hier, dein Test“, sagt er, „Negativ!“ Ich fang an zu zittern, zu weinen, er nimmt mich an den Schultern, schüttelt mich ein bisschen. „Was ist denn los, he? Negativ! Du hast es nicht! Negativ heißt, du hast das Virus nicht, es ist alles in Ordnung.“ Er hat "alles in Ordnung" gesagt. Natürlich, wenn man es hat, heißt es positiv. Negativ bedeutet, alles ist in Ordnung. Negativ ist in Ordnung, natürlich. Ich steh auf, putz mir die Nase am Ärmel ab, egal. Negativ heißt in Ordnung. „Danke“, sage ich zu ihm, als wäre er es gewesen, der die Hand über mir hatte, stolpere in den Gang, in den Aufzug, raus. Draußen nieselt es ein wenig. Irgendwo sticht ein Sonnenstrahl durch die Wolken. Auf einem Tulpenbaum sitzt eine Amsel und schmettert ihr Lied quer durch die Stadt. "Hallo Welt!", sage ich leise und versuche ein Lachen.
|