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Leseprobe:
An Nachmittag des nächsten Tages saß Melanie allein in ihrem Zimmer. Natürlich hatte ihr Vater bekräftigt, dass Hausarrest bedeutete, auch keinen Besuch zu empfangen, natürlich hatte sie längst ausgeschlafen, natürlich war ihr langweilig - stinklangweilig. Das hält doch kein normaler Mensch aus, den ganzen Tag CDs hören, kein Fernsehen, nur Bücher, nicht mal Hausaufgaben und zum Spielen nur der Hund und die kleine Schwester, die den ganzen Tag nichts anderes als Barbys und Bibbi Blocksberg im Kopf hat. "Telefon für dich!", rief die Mutter, "deine beiden Freunde!" "Aber telefonieren darf ich trotz Hausarrest oder musst du da auch erst den Daddy fragen?", rief sie schnippisch. Die Mutter antwortete nicht und hielt ihr den Hörer hin. "Fehlanzeige!", sagte Paul, "der lässt sich nicht überreden. Der lasert nicht an der Jungfrau rum." "So'n Feigling!", zischte Melanie. "Und jetzt?" "Weiß auch nicht", sagte Paul und im Hintergrund hörte sie Butsch irgendwas sagen, was wie "... dann bauen wir uns halt ein anderes Baumhaus" klang. Aufgeben! Wie stellten die sich das vor? Die Wut kroch in ihr hoch. Sollte sie vielleicht zu ihrem Daddy gehen und ihm sagen, du kannst deinen Scheißparkplatz bauen, oder wie? Kirchenasyl, Hausarrest, Dornbusch, alles umsonst? Sie sah direkt das Gesicht ihres Vaters vor sich. Ein ganz kleines Grinsen würde sich zeigen, aber sie wüsste, was das bedeutete. Ich bin der Stärkere, hieße das. Ihre Schwester und ihre Mutter saßen auf der Terrasse, aber gerade zogen vom Horizont her dunkle Wolken auf. Wieder ein Abendgewitter, wie die ganzen letzten Tage zuvor. Und wieder kein Mensch, der Blitz und Feuer an die richtige Stelle lenkt, dachte sie - und kein Gott. Plötzlich die Einsicht: Dann mache ich es eben allein. Leise rief sie nach Foxy, schlüpfte dann in den Windfang, zog ihre Schuhe an, schlich noch mal zurück, um sich ein Feuerzeug zu holen, nahm sich noch schnell ihren Regenumhang vom Bügel und verschwand mitsamt ihrem Hund so geräuschlos sie konnte. Hoffentlich hatten die Jungs sie nicht gesehen. Die konnte sie jetzt nicht gebrauchen, die saßen bestimmt wieder oben bei Paul und dann würde wieder geredet und geplant und im Endeffekt doch nichts gemacht. Jetzt wollte sie handeln, sie und nur sie allein. Sie vermied den üblichen Weg zum Paradies, der an dem Café vorbei führte, wo jeder sie sehen konnte, sondern schlug sich gleich unterhalb der Neubausiedlung in den Wald. Wenn man hier geradeaus ins Tal lief, müsste man auch am Paradies rauskommen. Oder irgendwo am Gutshaus. Sie bahnte sich ihren Weg durch das Unterholz, schob vorsichtig Brennnesseln und Dornen zur Seite. Foxy lief misstrauisch hinterher. Er bekam immer die zurückfedernden Äste auf die Schnauze, das gefiel ihm überhaupt nicht. Trotzdem folgte er ihr. Die ersten Tropfen fielen, in der Ferne rumpelte der erste Donner, aber das gehörte ja zum Plan. Sie zog sich den Regenumhang über. "Gleich sind wir durch!", sagte sie zu Foxy und wunderte sich schon ein wenig, dass es allmählich wieder bergauf ging. Aber dann stieß sie auf einen Pfad und war sich sicher, das war die Verbindung zwischen Gutshaus und Paradies. Also links. "Schlimm ist es nicht den falschen Weg zu gehen, schlimm ist zu meinen, es sei der richtige." Dieser Leitsatz ihres Vaters ging ihr kurz durch den Kopf, aber sie brachte ihn nicht in Verbindung zu dem Pfad, auf dem sie unterwegs war. Erst als sie plötzlich auf einen breiten Fahrweg stieß, wurde ihr klar, dass sie nicht mehr wusste, wo sie war. Macht nichts, dachte sie, ich bin bestimmt rechts am Paradies vorbeigelaufen, ich muss hier nur links gehen. Es regnete inzwischen in Strömen, das Donnergrollen, das sie bisher nur von fern gehört hatte, schien jetzt näher zu kommen. Plötzlich erhellte ein Blitz den Wald, ein paar Sekunden später knallte es. Foxy drückte sich ängstlich an ihre Beine. "Keine Angst, Foxy", sagte sie etwas zu laut, "wir sind wohl nur irgendwie daran vorbeigelaufen!" Als sie aber auch nach einer weiteren Strecke noch immer nicht aufs Paradies stieß, entschloss sie sich umzukehren. Sie spürte, wie schnell ihr Herz schlug. Das kommt bestimmt vom Laufen, redete sie sich ein. Denn sie wusste ja, sie hatte noch nie im Gewitter Angst gehabt. Das Wasser stürzte inzwischen vom Himmel, im Sekundenabstand blitzte es links und rechts neben ihr. Sie ging jetzt nicht mehr, sie rannte, bemerkte nicht, dass sie an dem schmalen Pfad vorbei lief, aus dem sie gekommen war, und rannte weiter, immer tiefer in den Wald hinein. Was für ein Unwetter! Die auf die Blätter und den Boden prasselnden Tropfen zerstoben zu Gischt, Sturmböen jagten die Dunstschwaden kreuz und quer durch den Wald, sie konnte kaum mehr die Hand vor Augen sehen. Selbst wenn das grelle Licht der Blitze den Wald um sie herum für Sekunden erhellte, sah sie keinen Weg, nur schwankende Bäume und tropfendes, sturmgepeitschtes Unterholz. Dann knallte in unmittelbarer Nähe ein Blitz herunter. Das war kein tiefes Donnergrollen mehr und kein dumpfes Krachen, das war ein kreischendes, schreiendes Inferno, ein alles verblendendes Gleißen, dass sie für einen Augenblick das Gefühl hatte, überhaupt nichts mehr zu hören und zu sehen, wie ein Kurzschluss im Kopf. Sie stolperte in eine flache Kuhle, warf sich zu Boden, zog, als sie wieder einigermaßen bei Sinnen war, den Regenumhang über sich, Foxy kam von irgendwoher gekrochen, drückte sich zittern und jaulend an sie. Wasser lief ihr über das Gesicht und erst jetzt merkte sie, dass es auch Tränen waren. Und gegen den schrecklichen Lärm der Sturzfluten, des Windes und des Donners fing sie an zu schreien, schrie, um zu hören, dass sie noch am Leben war, kreischte und schrie um ihr Leben, schrie: "Hilfe, Hilfe, Papa, Mama, Hilfe!" Ziemlich genau zur selben Zeit raste Melanies Vater mit den beiden Jungs auf dem Rücksitz am Café »Zum Hohenorter Tal« vorbei, hinein in den Feldweg, der zum Paradies führte.
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